Um kaum einen anderen Körperteil ranken sich so viele Mythen wie um die Vulva. Das liegt auch daran, dass selbst Gynäkologen hier noch einiges lernen können.
Jeder Mensch ist einmalig und das betrifft sowohl Charakter als auch Physiognomie. Wir besitzen zwar eine einheitliche Anatomie, unterscheiden uns aber bereits grundlegend als Mann oder Frau. Und die Vielfalt unter Frauen gleicht einem Wunderwerk an Normvarianten, insbesondere was das Erscheinungsbild der weiblichen Vulva angeht. Hier steht Andersartigkeit für Normalität, abgesehen von seltenen Pathologien. Der englische Künstler Jamie McCartney hat ein Vulva-Abklatsch-Modell von 40 Frauen vorgenommen und dabei 40 unterschiedliche Darstellungen hervorgebracht.
Die großen Schamlippen (Labia majora) begrenzen die Vulva allseitig als fettreiche Hautfalten und sind jeweils vorne und hinten in einer Kommissur verbunden. Abdominal bildet ein kleines subkutanes Fettpolster den Schamberg (Mons pubis). Parallel zu den großen Schamlippen verlaufen die haarlosen kleinen Schamlippen (Labia minora), die häufig, aber bei weitem nicht immer, von den großen Schamlippen bedeckt werden.
Vorne enden die kleinen Schamlippen am sichtbaren Ende der Klitoris, deren zwei unsichtbare Schenkel weit ins Becken hineinragen und aus Schwellkörpern bestehen. Die Klitoris selbst ist ein Schwellkörper, auf dem sich zahlreiche Nervenendigungen treffen und die als äußerst sensibel gilt. Etwas unterhalb der sichtbaren Klitoris befindet sich die äußere Harnröhrenmündung. Der Eingang zur Vagina, auch Introitus genannt, wird von dem Hymenalsaum umgeben.
Wie „Frischhaltefolie, die die Waren im Supermarkt versiegelt, um anzuzeigen, dass sie unberührt sind“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal in ihrem Buch Vulva. Dabei besteht das Hymen, umgangssprachlich Jungfernhäutchen genannt, aus dehnbaren Falten der Vaginalschleimhaut, die den Eingang zur Scheide umsäumen, aber nicht hermetisch verschließen. Im Normalfall lässt es Menstruationsblut passieren, auch wenn eine Frau noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. Es verändert sich hormonabhängig und man kann es sich am ehesten wie einen dicken, samtigen Haargummi vorstellen, aber keinesfalls wie eine undurchlässige Barriere, die beim ersten Verkehr reißen oder bluten sollte.
Natürlich kann die Vaginalhaut beim ersten Verkehr durch kleine Verletzungen bluten, das kann aber genauso gut nicht der Fall sein oder irgendwann später wieder einmal passieren. Auch lässt sich nicht durch eine gynäkologische Untersuchung definitiv festlegen, ob eine Frau bereits Geschlechtsverkehr hatte oder nicht. Dennoch gibt es immer wieder aus vorwiegend kulturellen Gründen Anfragen nach einer Hymenrekonstruktion. In der Freiburger Uniklinik geschehe das etwa vier bis fünf Mal im Jahr, so Prof. Ingolf Juhasz-Böss, Ärztlicher Direktor der Frauenklinik. Das Häutchen werde an dem ausgefransten inneren Rand wieder näher zusammengenäht. „Eine Garantie, dass es blutet, gibt es bei dieser OP nicht“, so sein Resümee.
„Penisse werden auf den Nerv genau dargestellt, aber die Erregung der Frau wird nicht ernst genommen und ist gleichzeitig unglaublich tabuisiert“, meint Prof. Daniel Haag-Wackernagel, Biologe am Institut für Anatomie in Basel und Forscher im Bereich Klitoris und weibliche Libido. Er entwickelte ein eigenes Klitorismodell, das anatomisch korrekt alle Details anschaulich darstellt und damit Einblicke in die Welt der weiblichen Sexualität gibt.
Anatomie der Klitoris. 1. Eichel in der Vorhaut (glans clitoridis) 2. Schwellkörper (corpus cavernosum) 3. Schwellkörperschenkel (crus clitoris) 4. Harnröhrenmündung 5. Vorhofschwellkörper 6. Scheidenöffnung © Miraceti/Wikimedia CommonsMan sieht schließlich nur einen sehr kleinen Teil der Klitoris, die Glans clitoridis. Hier bündeln sich etwa 8.000 sensorische Nervenendigungen, vergleichbar mit der Glans penis, nur dass die Dichte bei der Frau 50-mal höher ist. Das macht die große Empfindsamkeit der Klitoris aus. Sie ragt weit in den Unterleib hinein, besteht aus Schwellkörpergewebe und zwei Schenkeln, und hat insgesamt auf beiden Seiten eine Durchschnittslänge von elf Zentimetern. „Die Größe der Klitoris ist bei einer Sektion nicht zu übersehen“, so Haag-Wackernagel. Dieser innere Teil der Klitoris erklärt auch den sogenannten G-Punkt. Man nimmt an, dass die Klitorisschenkel im vorderen vaginalen Drittel von der Unterseite her stimuliert werden können.
Seit einigen Jahren hat sich die Intimrasur als allgemeiner Trend durchgesetzt. Dadurch und mittels eines immer freizügigeren Umgangs in den Medien, entstehen Idealvorstellungen von Vulven. Sie postulieren eine glatte, unbehaarte Vulva, bei der die äußeren die inneren Schamlippen gleich einer Muschel sanft umschließen. Abweichungen durch verschieden große Labien, gerunzelter statt glatter Haut und unregelmäßig konfiguriertem Hymenalsaum entsprechen nicht dem gängigen Schönheitsideal, sind aber Normalität per excellence. Jeder Gynäkologe mag das bestätigen.
Die Zahl der weltweiten Eingriffe zur Intimchirurgie, meist Verkleinerung der kleinen Schamlippen, ist in den vergangenen Jahren um 25 % gestiegen. Die Internationale Gesellschaft für Ästhetische und Plastische Chirurgie meldete für 2018 in Deutschland 8.743 Schamlippen-Korrekturen. Dr. Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte, rät bei solchen Anfragen: „Bei dem Gespräch kann man die Frau – auch anhand von Bildmaterial – in den meisten Fällen aufklären, dass ihr Genital normal ist und nicht operiert werden muss. Da auch Komplikationen, wie Infektionen, oder wulstige Vernarbungen, sogenannte Keloide, die den Sexualverkehr nachhaltig stören können, auftreten können, ist der frauenärztliche Rat wichtig.“
Demnächst soll es eine Leitlinie zu Rekonstruktion und ästhetischen Operationen des weiblichen Genitales geben. Darin werden auch weitere mögliche Komplikationen wie Nachblutungen, Wundheilungsstörungen und nötige Nachoperationen wissenschaftlich aufgearbeitet. „Bei allen ästhetischen Eingriffen gilt, dass eine schonungslose Aufklärung über mögliche Risiken erfolgen muss. Je weniger ein Eingriff medizinisch notwendig ist, um so umfassender ist aufzuklären“, meint Prof. Matthias Beckmann von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und Mitautor der Leitlinie.
An eine Operation ist dann zu denken, wenn ein hoher psychischer Leidensdruck besteht, der Psyche und Sexualverhalten maßgeblich beeinträchtigt. Auch können funktionelle Beschwerden auftreten, beispielsweise nach Geburtstraumen oder Unfällen, die eine Operation nötig machen.
Auf der anderen Seite steht das Leid vieler Frauen, deren Vulven durch Genitalverstümmelung oder sexualisierte Gewalt schwer verletzt und deren Psyche dadurch traumatisiert wird. Weltweit sind etwa 200 Millionen Frauen betroffen, jährlich kommen schätzungsweise 3 Millionen hinzu. Verbreitung findet diese schwere Art der Menschenrechtsverletzung in vielen Ländern Afrikas, auf der arabischen Halbinsel und in Indonesien.
Diese beispielslose Gewalt gegen Frauen kann in der Entfernung der Klitoris, der kleinen Schamlippen oder auch des nahezu vollständigen Verschlusses des äußeren Genitales geschehen. Weibliche Genitalverstümmelung ist auch ein Problem, das Deutschland betrifft: Im Zuge der zunehmenden Migration gibt es bei uns schätzungsweise 58.000 betroffene Frauen und für kleine unbeschnittene Mädchen gibt es das Risiko der „Urlaubsbeschneidung“ bei Reisen ins Ursprungsland. Seit 2013 ist die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland ein eigener Straftatbestand und seit 2015 auch eine Auslandsstraftat.
Innerhalb der gynäkologischen Fachgesellschaft gibt es zwei herausragende Leuchtturmprojekte: Der Berufsverband der Frauenärzte ist Mitbegründer der Geburtshilfeklinik Danakil in Nordost-Äthiopien. Hier wird seit 2010 denjenigen Frauen geholfen, die durch genitale Verstümmelung schwer geschädigt wurden und auch deutsche Gynäkologen arbeiten regelmäßig mit. Und im Jahr 2018 erhielt der Gynäkologe Dr. Denis Mukwege den Friedensnobelpreis für seinen unermüdlichen Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Frauen, worüber er seine bewegende Autobiografie Meine Stimme für das Leben verfasst hat.
Neben einer großen Formenvielfalt der weiblichen Vulva gibt es aber auch einige pathologische Abweichungen. Beispielhaft sei hier eine typische Hymenalfehlbildung genannt, wie der angeborene komplette Verschluss des Hymens. Eine solche Hymenalatresie tritt durch ein Ausbleiben der Menarche, Unterbauchschmerzen und ein Hämatokolpos in Erscheinung. Das adrenogenitale Syndrom ist die häufigste Ursache für eine Virilisierung des äußeren weiblichen Genitales und ruft unterschiedliche Ausprägungen von Klitorishypertrophien hervor.
Krankhafte Hautveränderungen an der Vulva sind beispielsweise der Lichen sclerosus, eine nicht seltene Autoimmunerkrankung, oder Präkanzerosen, die als VIN 1-3 bezeichnet werden. Das Vulvakarzinom stellt das vierthäufigste Karzinom des weiblichen Genitales dar und tritt besonders bei älteren Patientinnen über 70 Jahren auf, wobei auch zunehmend jüngere Patientinnen betroffen sind. Die komplette Vulvektomie als operative Therapie ist eine sehr einschneidende und die weibliche Integrität belastende Methode, die speziellen Situationen vorbehalten sein sollte.
Die Vulva ist ein Wunderwerk der Vielfalt. So viele verschiedene Frauen es gibt, so unterschiedlich sind auch ihre Vulven. Das ist die Hauptbotschaft, die Gynäkologen verunsicherten Patientinnen überbringen können. Intimchirurgie ist in psychisch sehr belastenden Situationen zu erwägen, bedarf aber einer ausführlichen Aufklärung.
Mythen und Unwissen über Hymen und Klitoris gilt es, durch Information entgegen zu wirken. Genitalverstümmelung ist eine Menschrechtsverletzung, der man auch in Deutschland zunehmend begegnen kann. Hier sind Hebammen und Gynäkologen in der Betreuung gefordert.
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